
Warum liegt Pilgern im Trend?
Bei unseren diesjährigen Reisen durch das Piemont, Neu-Aquitanien und das Obere Donautal sind wir auf verschiedene Jakobswege gestoßen. Einer verläuft sogar wenige Kilometer an unserem Wohnort vorbei. Jetzt sind wir keine Pilger und können deshalb keine Erfahrungen zum Thema beisteuern. Wir versuchen uns jedoch der Antwort zu nähern, weshalb Pilgern trotz massenhafter Kirchenaustritte im Trend liegt.
Es ist paradox: Während die christlichen Kirchen in vielen westlichen Ländern Mitglieder verlieren, erlebt das Pilgern einen beispiellosen Aufschwung. Jakobswege schießen inflationär wie Pilze aus dem Boden. Es kann unseres Erachtens jedoch keine rein religiöse Motivation dahinterstehen.
Alternativ gibt es unzählige ausgewiesene Wanderwege – auch Fernwanderwege. Welche Gründe sind demnach ausschlaggebend, dass eine zunehmende Anzahl von Menschen das Pilgern dem Wandern vorziehen?
Viele moderne Pilger verstehen wohl den Weg nicht als religiöse Wallfahrt, sondern als eine Art „Auszeit vom Alltag“. So werden im Kloster Beuron Aufenthalte angeboten, um in Ruhe zu sich zu finden und neue Kraft zu tanken. In einer Welt, die von ständiger Erreichbarkeit, Leistungsdruck und Reizüberflutung geprägt ist, bietet Pilgern einen unnachahmlichen Kontrast.
Pilgern hat sich mutmaßlich zu einer modernen Form der Sinnsuche entwickelt. Es geht nicht mehr zwangsläufig um eine Wallfahrt zu einem Heiligen, vielmehr um eine Reise zu sich selbst. Das Pilgern bietet eine Antwort auf die Bedürfnisse unserer Zeit:
- die analoge Flucht aus der digitalen Welt,
- eine Reise zur inneren Ruhe und
- die physische Erfahrung, die den Geist stärkt.
Hinzu kommt die persönliche Selbstreflexion, um über das eigene Leben nachdenken zu können, sowie eine bis dato ungekannte Entschleunigung:
- ohne einen durchgetakteten Terminkalender,
- ohne E-Mail-Flut und
- ohne den stakkatoartigen Puls der Sozialen Medien.
Mit ähnlichen Aspekten begründen wir unsere Motivation für unsere Reisen mit dem Wohnmobil. Na ja, digital bleiben wir online. Aber wir gewinnen unterwegs die Selbstbestimmung über unseren Tagesablauf und die Freiheit zurück, nicht auf vorgegebenen Pfaden zu wandeln. Wir reflektieren auch gern die Lebensweise und Mentalität von Bewohnern, deren Region wir bereisen, um ggf. den eigenen intellektuellen Horizont zu erweitern.
Pilgern möchten wir unsere Art des Reisens dennoch nicht nennen. Unser Ziel ist vorzugsweise geografisch und erlebnisorientiert – also im Duktus des Wanderns statt des Pilgerns. Wenngleich wir auf Achse die Solidarität der „Weggefährten“ schätzen gelernt haben. Gemeinsame Rituale verbinden Menschen, die sich zuvor nie getroffen haben, aber sich den Weg und ihre Anekdoten miteinander teilen – wie bei den Pilgern, so auch bei den Wohnmobilisten.
Foto:
Jakobspilger-Statue am Kloster Beuron
Fassung des Artikels:
17. August 2025